Sehr geehrte Frau Prof. Dr. Süssmuth,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde!

„[Es ist] Zeit, gemeinsam Geschichte zu schreiben“ – so steht es auf den Einladungskarten zu dieser Veranstaltung. Und tatsächlich haben wir uns nicht nur ein großes, sondern ein historisches Ziel gesetzt: Aids soll ab dem Jahr 2020 in Deutschland Geschichte sein.

Wenn da nun jemand fragt, ob wir es nicht vielleicht auch eine Nummer kleiner gehabt hätten, dann lautet unsere Antwort: Nein, zum Glück nicht. Denn dieses Ziel ist Ausdruck unserer Grundwerte als Aidshilfe und auch Ausdruck eines Menschenrechtes: Jeder Mensch hat ein Recht auf den bestmöglichen Gesundheitszustand. Die Gesellschaft soll dazu beitragen, keinesfalls darf sie Gesundheit schädigen.

Der Claim unserer Kampagne –  „Kein AIDS für alle!“ fordert dieses Recht ein. Er sagt: Niemand soll an Aids erkranken müssen. Aids ist heute vermeidbar, also lasst uns die Bedingungen schaffen, dass es niemand mehr bekommt.

Dieses hohe Ziel auf die Agenda zu setzen, hat die Mitgliederversammlung der Deutschen AIDS-Hilfe 2014 in Lübeck beschlossen.

Wir sind damit einer Vision von UNAIDS gefolgt: Dass Aids bis 2030 weltweit beendet sein soll. Dieses Ziel ist auch in den Entwicklungszielen der Vereinten Nationen festgeschrieben.

Wir haben es dabei aber nicht bewenden lassen: In Deutschland, haben wir gesagt, können wir dieses Ziel schneller erreichen – und damit auch international ein Zeichen setzen.

Schließlich sind die Bedingungen hier besonders gut: Dank erfolgreicher Prävention haben wir niedrige Infektionszahlen, HIV-Medikamente sind ausreichend verfügbar, wir haben ein leistungsfähiges Gesundheitssystem und gute Testangebote. Wir verfügen bereits über eine erfolgreiche Kooperation zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen und Einrichtungen. Die Bevölkerung ist insgesamt gut informiert und die Gesellschaft hat sich – nicht zuletzt dank Ihnen, Frau Süssmuth –  für einen prinzipiell solidarischen Umgang mit HIV-positiven Menschen entschieden.

Beste Bedingungen also, um die uns viele beneiden.

Die Situation ist nun aber folgende: Noch immer erkranken Jahr für Jahr weit mehr als 1.000 Menschen in Deutschland an Aids. Die meisten, weil sie viele Jahre mit HIV gelebt haben, ohne es zu wissen. Sie erfahren erst, dass sie HIV haben, wenn sie Aids bekommen.

Zu diesen so genannten Spätdiagnosen kommen weitere Menschen hinzu, die erkranken, obwohl sie von ihrer Infektion bereits wussten.

Und das alles, obwohl man mit HIV heute lange und gut und – ja!–  gesund leben kann.

Dass trotzdem noch so viele Menschen an Aids erkranken, können und wollen wir nicht hinnehmen. Das wollen wir verändern. Und darum sind wir heute hier.

Mit den Hindernissen, die Menschen vom Test und von der Therapie abhalten, werden wir uns heute ausführlich auseinandersetzen – und über Lösungen sprechen.

Zwei wesentliche Aspekte möchte ich hier eingangs nennen:

Erstens: Die meisten Menschen, die an Aids erkranken, haben jahrelang mit HIV gelebt, ohne es zu wissen. Manche haben einfach nicht damit gerechnet, dass HIV sie betreffen könnte. Andere haben den Test gescheut, weil sie Angst vor dem Ergebnis hatten. Genauer: Angst davor, dass mit HIV ihr Leben vorbei wäre. Oder Angst davor, dass sie dann Ausgrenzung erfahren würden. Zugleich haben Ärztinnen und Ärzte zu oft nicht an HIV gedacht oder Hemmungen gehabt, einen Test anzubieten.

Zweitens: Es gibt tatsächlich auch in Deutschland Menschen, die keine Therapie erhalten, obwohl sie wissen, dass sie HIV-positiv sind. Dies betrifft vor allem Menschen ohne Papiere: Sie trauen sich oft aus berechtigter Angst vor Abschiebung nicht in die Arztpraxis oder Ambulanz – selbst dann nicht, wenn sie schwer krank sind. Manchmal endet das tödlich.

Diese Hindernisse zeigen: Es sind einerseits – bei allen Fortschritten! – immer noch die gleichen Probleme wie eh und je, die Schaden anrichten: Diskriminierung, Ausgrenzung und Verurteilung von Menschen mit HIV einerseits, strukturelle Benachteiligung und Ausschluss von Menschen andererseits.

Diesen Missständen müssen wir weiterhin entschieden entgegentreten. Mit unserer Kampagne „Kein AIDS für alle!“ werden wir dazu weitere Bündnispartner, weitere Lösungsansätze suchen und finden.

Hinzu gekommen ist noch eine Herausforderung: Viele Menschen haben noch viel zu dramatische Vorstellungen vom Leben mit HIV. Die alten Bilder von der schweren oder tödlichen Erkrankung stecken noch immer in den Köpfen. Wenn sie Menschen vom HIV-Test abhalten, werden sie zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Dann werden Menschen nur deswegen schwer krank, weil die Angst vor der schweren Erkrankung so groß war, dass sie ihr Risiko verdrängt haben.

Auch hieran arbeiten wir bereits seit Jahren intensiv und sind auf einem guten Weg – aber noch lange nicht am Ziel. Bis sich Bilder in Köpfen verändern, braucht es viel Zeit. Lasst uns also weiter unermüdlich ein realistisches und vielfältiges Bild vom Leben mit HIV zeichnen.

Dazu noch ein Gedanke: Wegen dieser beharrlichen alten Bilder haben wir in der Aidshilfe-Arbeit in den letzten Jahren weniger von Aids gesprochen, vor allem von HIV. Wir haben immer wieder deutlich gemacht: Mit HIV kann man heute gut leben! HIV bedeutet eben nicht Aids.

Dass wir nun wieder verstärkt von Aids sprechen, ist kein Widerspruch dazu. Ganz im Gegenteil: Indem wir erklären, dass Menschen mit HIV nicht an Aids erkranken müssen, machen wir den Unterschied noch einmal deutlich. Das ist auch ein Ziel dieser Kampagne: Dass der Unterschied zwischen HIV und Aids so deutlich wird wie nie zuvor.

Und eben weil wir so klar zwischen HIV und Aids unterscheiden, müssen wir von Aids sprechen, so lange es Aids noch gibt. Damit es Aids bald nicht mehr gibt.

Unsere Verantwortung in der Aidshilfearbeit wird damit übrigens gewiss nicht enden. HIV wird es noch lange geben, auch wenn mehr HIV-Behandlung natürlich auch weniger Infektionen bedeutet, weil die Medikamente auch die Übertragung verhindern. Das Ziel „Kein AIDS für alle!“ gilt es nicht nur zu erreichen, sondern dann auch zu halten.

Aber beginnen wir, wo wir stehen. Die 90-90-90-Ziele von UNAIDS – 90 Prozent der Menschen mit HIV diagnostiziert, 90 Prozent davon behandelt, 90 Prozent davon unter der Nachweisgrenze – sind auch in Deutschland noch nicht erreicht. Und 2030 sollen es dann laut UNAIDS schon jeweils 95 Prozent sein!

Auch in der BIS2030-Strategie der Bundesregierung findet sich das Ziel: Spätdiagnosen vermeiden, Therapie frühzeitig ermöglichen. Ein weiteres: Stigma entgegen treten. Mit dem Bundesministerium für Gesundheit und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung haben wir starke Partner an unserer Seite. Und noch viele weitere sind hier vertreten.

Es ist schön, dass Sie alle heute hier sind, das macht Mut.

Denn mit „Kein AIDS für alle!“ haben wir uns ein hohes Ziel gesteckt. Wir werden dazu jetzt häufig gefragt: Kann das wirklich gehen? Und wir antworten: Ja, das geht. Wenn alle an einem Strang ziehen.

Wir wissen: Hoch gesteckte Ziele setzen Kräfte frei. Gemeinsam können wir deutlich machen, warum in Deutschland heute noch mehr als 1.000 Menschen pro Jahr eine potenziell tödliche Krankheit bekommen, die sich längst vermeiden ließe – und diese Hindernisse angehen.

Lasst uns heute damit beginnen!

Herzlichen Dank!